„Ich habe hier fürs Leben gelernt“
Diplom-Ingenieur Klaus Volkmann lässt bei der Sonderführung durch die Zentralwerkstatt im September 2014 die Arbeitswelt der 1950er Jahre lebendig werden: Mit 14 Jahren hat er als Bergjungmann auf der Zeche Lohberg begonnen und dann seine Lehre als Schlosser hier absolviert. Gästeführerin Anja Sommer gibt ihrer Gruppe spannende Einblicke in „Neue Kunst und alte Arbeitswelten in historischen Gebäuden“.
„Ich bin fast überwältigt“, gesteht Klaus Volkmann während der zweistündigen Führung über das Zechengelände. „Das alles hier wieder zu sehen, nach 60 Jahren…“ Der 74-Jährige war fast noch ein Kind, als er 1954 mit seiner Mutter aus dem zerbombten Kiel nach Dinslaken zog, weil es in seiner Heimatstadt weder Arbeits- noch Ausbildungsplätze gab. Sein Pfarrer vermittelte ihn über einen Dinslakener Kollegen an die Zeche Lohberg, dieser besorgte auch eine Wohnung.
Der Junge von der Ostseeküste war mächtig aufgeregt, als er zum ersten Mal die riesige Zechenanlage betrat. „Ich habe nur noch gestaunt. Aber das Lehrjahr hatte vier Wochen vorher begonnen und der Ausbildungssteiger meinte, ich hätte schon zu viel verpasst. Ich durfte jedoch als Bergjungmann auf der Zeche anfangen, das war so eine Art Hilfsarbeiter.“ Jener Steiger hatte sein Büro im Turm des Sozialgebäudes, wo seit 2010 Sängerin Samirah Al-Amrie arbeitet: ein Beispiel dafür, wie neue Kunst und alte Arbeitswelten im Laufe der hoch interessanten Führung aufeinander treffen. Früher gab es im Sozialgebäude unter anderem einen Milchausschank für die Familien der Bergleute, heute beherbergt es Künstlerateliers.
Schwerarbeit mit Beil und Vorschlaghammer im Stollen: „Der Lärm war bestialisch.“ Schutz für die Ohren gab es nicht.
In den 1950-er Jahren war es normal, dass 14-Jährige so hart arbeiteten wie erwachsene Männer. Und auf der Zeche konnte man einen pfiffigen Burschen wie Klaus gut gebrauchen. „Ich habe über Tage mit dem Beil bei Holzarbeiten geholfen und auch gemauert. Die schwere Arbeit am Leseband gehörte auch dazu: Wir haben die großen Kohlebrocken mit dem Vorschlaghammer zerkleinert. Ohne Lärmschutz! Den gab es noch nicht. Der Lärm war bestialisch“, erzählt Klaus Volkmann den Teilnehmern. Die Schufterei wurde immerhin gut bezahlt: „Mit 14 Jahren habe ich schon 100 DM im Monat verdient, ein kleines Vermögen. Zum Vergleich: Meine Mutter bekam 120 DM Rente.“ Nach acht Stunden Plackerei schlief der Bergjungmann oft schon am Abendbrottisch ein.
Schmunzelnd erinnert sich Klaus Volkmann an die Frauen der Bergleute, die vor dem Eingangstor der Zeche aufpassten, damit ihre Männer den hart errungenen Lohn nicht gleich in der Kneipe gegenüber versoffen. Im Verwaltungsgebäude, das zurzeit wegen Renovierung geschlossen ist, wurde früher der Lohn ausbezahlt: bar in der Tüte, mit handgeschriebenen Lohnzetteln. „Sind Sie auch in die Kneipe gegangen?“, möchte einer der Teilnehmer wissen. Klaus Volkmann beteuert: „Natürlich nicht, ich war doch erst 14!“
Der Diplom-Ingenieur lobt die hohe Qualifikation der Sanitäter, die sich in der Verbandsstube gemeinsam mit einem bei Unfällen dazu gerufenen Arzt aus dem Krankenhaus – einen Werksarzt gab es zu seiner Zeit nicht – um die Versorgung der oft schwer verletzten Bergmänner kümmerte. „Die Sanis waren hervorragend!“
Als Vertretung für den Werkstattboten, den „kleinen König“, fiel der 14-Jährige positiv auf und durfte eine dreijährige Lehre als Schlosser beginnen.
Der Zufall und seine Geschicklichkeit verhalfen dem Bergjungmann dazu, dass er als 15-Jähriger eine Lehre als Schlosser antreten durfte: „In der Zentralwerkstatt gab es einen kleinwüchsigen Boten, den alle den ‚kleinen König‘ nannten. Er war oft krank und ich habe ihn vertreten. Ich habe den Kontakt zwischen den Vorarbeitern und der Verwaltung gehalten und Kaffee gekocht.“ Der Leiter der Zentralwerkstatt sagte anerkennend zu Klaus Volkmann: „Du bist mir zu schade für unter Tage, du kannst eine Schlosserlehre anfangen.“ „Da war ich glücklich“, erzählt der Senior strahlend. „Es waren drei faszinierende Lehrjahre.“
In der Zentralwerkstatt, einer lang gestreckten dreischiffigen Halle mit Emporen, befand sich auch die Lehrwerkstatt. Bevor es bei der Führung in ihr Inneres geht, erläutert Stadtplanerin Anja Sommer die Besonderheiten der Architektur: „Wie die anderen zwischen 1906 und 1915 errichteten Gebäude hier steht auch die Zentralwerkstatt unter Denkmalschutz. Für mich ist sie eines der hervorragendsten Bauwerke der Zeche mit einer sehr ausgewogenen Architektur. Typisch für damalige Fassaden waren der Wechsel von Ziegelsteinen und Putz und die Metallsprossenfenster.“ Die harmonische Gestaltung des Gebäudes ist noch gut zu erkennen. „Damals kam Stahl als Baumaterial auf, aber er galt als hässlich“, berichtet Anja Sommer. „Deshalb versteckt sich die Stahlkonstruktion der Zentralwerkstatt hinter einer Ziegelfassade, die an die norddeutsche Backsteingotik erinnert. Das Bauwerk zeigt, wie hoch der Anspruch an die Architektur der Arbeitsstätten damals war.“
Dieser Anspruch schwand mit den Jahrzehnten erheblich, wie die Reste der schäbigen Wellblechfassade an der ehemaligen Waschkaue nahe der Zentralwerkstatt beweist. Die Kaue, oftmals im laufenden Betrieb umgebaut, wird zurzeit schrittweise abgerissen. Die Statiker wachen mit Argusaugen darüber, denn der Rückbau ist „sehr aufwendig und voller Überraschungen“, weiß Anja Sommer. Klaus Volkmann schildert lebhaft, was sich früher in der Kaue abspielte: „Da standen beim Schichtwechsel Hunderte von nackten Männern unter der Dusche und schrubbten sich gegenseitig den Rücken. Wir waren ja schwarz wie die Nacht!“
Kein Betrieb unter Tage ohne Zentralwerkstatt: Unter Zeitdruck und bei Höllenlärm reparierten geschickte Handwerker, was im Schacht kaputt ging.
Zurück zur Zentralwerkstatt, dem Kernstück der heutigen Sonderführung: „Ohne diese wäre der Betrieb unter Tage gar nicht möglich gewesen“, erklärt Klaus Volkmann. Mit Anja Sommer zählt er die Gewerke auf, die in der riesigen Halle dicht an dicht und „höllisch laut“ arbeiteten. „Schlosserei, Schweißerei, Schmiede, Schreinerei, Fräserei, Hobelbank und sogar eine Sattlerei.“ Der Sattler fertigte Arschleder an und lederne Helme. Kunststoffhelme, an denen sich Lampen anbringen ließen, wurden erst später eingeführt. „Die Lederhelme waren besser als gar nichts“, blickt Klaus Volkmann zurück. „Und Licht gaben uns Karbitlampen.“
„Schwer beschädigte Maschinenaggregate, Panzerrinnen und -ketten wurden hier unter Zeitdruck repariert“, erklärt Klaus Volkmann. „Sie kamen in Wagen auf Gleisen an. Damals fing man an, unter Tage auch Aluminium und Stahl zu verwenden. Ich habe fleißig daran mitgearbeitet, Verbogenes wieder in Form zu bringen. Und wir haben Nieten glühend gemacht.“ Eine Verständigung war nur schreiend möglich und ständig waren die Arbeiter hoher Verletzungsgefahr ausgesetzt. Feierabend bekamen die Lehrlinge erst, wenn sie sämtliche Späne aus den Fugen gefegt hatten.
Die fortschrittliche Ausbildung in Lohberg war für Klaus Volkmann die Grundlage für seine Karriere als Maschinenbau- und Sicherheitsingenieur.
Wie die anderen Lehrlinge wurde Klaus in jedem Gewerk ausgebildet, nicht nur in der Schlosserei. Davon zehrt er heute noch: „Ich habe hier fürs Leben gelernt. Sowas vergisst man so wenig wie Schwimmen und Radfahren. Ich habe erst kürzlich meinen Kellerabgang neu verputzt.“ Die Ausbildung sei sehr fortschrittlich gewesen. Noch heute, nach 60 Jahren, kann der Diplom-Ingenieur jeden Namen der Ausbilder und Handwerker nennen. „Der war ein feiner Kerl, und der ein wahrer Künstler…“, erinnert er sich mit Rührung. So erzählt er bewundernd von einem Maschinenführer, der seine gewaltige Dampfmaschine „genau konform mit den Gleisen“ manövrierte.
Ein Teilnehmer der Führung gibt sich nun auch als ehemaliger Lehrling zu erkennen und die Herren blicken gemeinsam zurück. Beide haben später die Abendschule besucht, Klaus Volkmann studierte Maschinenbau und hat als Sicherheitsingenieur viel von der Welt gesehen. Zum Abschluss seiner Ausführungen zeigt er den Teilnehmern eine Gedenkmütze, die auf einem kleinen Kohlestück sitzt. „Das ist die hochwertige Kohle aus Lohberg, die nach 60 Millionen Jahren das Tageslicht erblickt hat“, sagt er bewegt. „Und das war für uns nicht nur raue Plackerei.“
Zeche im Wandel zum Kreativ.Quartier: Abriss und Neues gehen Hand in Hand
Anja Sommer hat während der Führung über das Baustellengelände der alten Zeche, die sich immer mehr zum Kreativ.Quartier wandelt, stets passende historische Fotos parat. Eine der Schwarzweißaufnahmen zeigt Klaus Volkmanns Lehrlingsjahrgang, und Klaus guckt aus der ersten Reihe keck in die Kamera. So hart die Arbeit auf der Zeche war, er fühlte sich fachlich und menschlich bestens betreut. „Der soziale Aspekt war auch dabei, das darf man nicht vergessen.“ Derbe Späße nahm man in der Männerwelt nicht krumm. „Am ersten Tag der Lehre haben die Gesellen mir gesagt, ich solle einen Eimer Pressluft holen – und das habe ich auch brav versucht.“
Die Gästeführerin erläutert ihrer Gruppe, dass Abriss und Neues derzeit auf dem Zechengelände Hand in Hand gehen: Hinter dem Bergpark wird ein modernes Wohnviertel entstehen, der gewerbliche Bereich wird sich in der Gegenrichtung bis zur Feuerwehr erstecken. Der Wandel von der Arbeitswelt der Zeche in ein attraktives Wohn-, Freizeit- und Arbeitsgebiet ist sehr aufwendig und spannend. Wie schön, dass es Zeitzeugen wie Klaus Volkmann gibt, die ihre Erlebnisse so eindrucksvoll vermitteln und damit die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft schlagen.
Text und Fotos: Gudrun Heyder
Führungen: Anja Sommer arbeitet bereits an einer Sonderführung mit neuen Interviewpartnern für 2015 und freut sich über weitere Zeitzeugen, die sich bei ihr melden. Informationen zu Themen und Terminen finden Sie auf www.KQL.de.
Anmeldung und weitere Infos zu Terminen und Gruppenbuchungen: Anja Sommer, Tel. 02064-428533 bzw. info@sommerfilz.de. Gebühr je nach Führung: 10 oder 7,50 Euro pro Person. Festes Schuhwerk ist Voraussetzung für die Teilnahme. Die Führungen sind auf 20 Personen beschränkt. Treffpunkt ist das Pförtnerhaus an der Hünxer Straße 368.