„Struktureller Wandel durch Zuwanderung“ – authentisch und kompetent vermittelt
Der gebürtige Lohberger Ömür Hafizoglu führte am zweiten Märzsonntag durch die Gartenstadt und brachte den Besuchern Geschichte und Gegenwart äußerst lebendig nahe. Am 12.11.2017 wiederholt der kundige Gästeführer diese Tour.
Alles andere als trocken war diese Führung auf den Spuren der Bewohner Lohbergs – es gab sogar Milch. Nicht für die Gäste, sondern für „Öm“ selbst, aber alle hatten ihre Freude daran. Als die Gruppe an der Ecke Lohberger Straße stand, stellte eine Nachbarin das Getränk vor Ömür Hafizoglus Haustür ab und er rief seinen Dank quer über die Straße. Nachbarschaft funktioniert in der Gartenstadt, das wurde während der kurzweiligen knapp zwei Stunden mehrfach deutlich. Einst war die Zechensiedlung das modernste Arbeiterquartier Europas.
Vom Treffpunkt Pförtnerhaus aus ging es in die Kasinostraße, in die „reichere“ Hälfte der parallel zur Zechengründung angelegten Gartenstadt. „Die bedeutenderen Mitarbeiter wie Ingenieure und Ärzte wohnten ganz nah an der Zeche und in großen, individuell gestalteten Häusern“, erläuterte Hafizoglu, der zum Team der Lohberg Tours gehört. „Die Lohberger Straße wurde früher Lohberger Graben genannt, weil dahinter die ärmere Hälfte der Siedlung lag. Die Häuser für die Bergarbeiter sahen alle genau gleich aus, um niemanden zu bevorzugen.“
Harmonisches Miteinander der internationalen Bevölkerung
Wohlhabendere und bescheidenere Hälfte – das hieß früher auch vorrangig deutsche und türkische Hälfte. Denn abgesehen von Heimatvertriebenen u.a. aus Ostpreußen, die nach Krieg und Gefangenschaft hier ihr Auskommen fanden, stammten die Bergleute vor allem aus der Türkei. „Manche hatten zuhause sogar studiert, aber hier fingen sie wieder als Hauer an“, berichtet der 28-jährige Student. In den 60er Jahren warb man viele Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum als Arbeitskräfte für die Zeche an, darunter auch Portugiesen, Spanier, Italiener und Griechen. Langfristig blieben aber fast ausschließlich türkische Familien in Lohberg und heute liegt der Anteil von türkischstämmigen und deutschen Bewohnern nahezu bei 50:50.
Um die internationale Bevölkerung miteinander in Kontakt zu bringen, spielten die etwa zehn weitläufigen Innenhöfe der Gartenstadt eine wichtige Rolle: Hier saßen die Arbeiter zusammen, um sich zu erholen und gemeinsam zu essen, die Kinder spielten zusammen. Hafizoglu, dessen Eltern, Großvater und Onkel hier in Sichtweite leben, erinnert sich gut daran, dass die Frauen einfach auf den Tisch für alle stellten, was sie gerade zubereitet hatte.
„Integration ist eine Frage der Bildung“
„Vor 110 Jahren gab es in Lohberg nur einige Bauernhöfe“, sagt der Gästeführer, „dann entstand diese als vorbildlich geltende Gartenstadt.“ Sie bot ihren Bewohnern alles, was sie zum täglichen Leben brauchten. Das führte allerdings dazu, dass die türkische Arbeiterschaft wenig Anlass sah, sich in die Gesellschaft ihres neuen Heimatlandes zu integrieren. „Integration ist eine Frage der Bildung“, betont Hafizoglu. „Die Lohberger Grund- und Hauptschule haben fast ausschließlich türkische Kinder besucht. Zuhause sprachen sie mit ihren Müttern türkisch, die Väter waren auf der Zeche oder in der Teestube. Wie sollten diese Kinder Deutsch lernen und die hiesige Kultur kennenlernen?“ Auch die Radikalisierung bis hin zum Salafismus, die ebenfalls zum Thema der Führung wird, wurzele darin, ist der Lohberger überzeugt. „Und früher bekam ohnehin jeder Jugendliche Arbeit auf der Zeche – wozu dann einen guten Bildungsabschluss anstreben?“
Inzwischen habe sich das Bild zum Positiven gewandelt, sagt Hafizoglu. „Es geht konstant nach oben in Lohberg. Die Salafisten sind verstorben oder hier weg.“ Deutsche und türkische Bevölkerung seien nun in beiden Hälften des Quartiers gemischt.
Identitätsfindung nach der Zechenschließung
Nach der Schließung der Zeche 2005 habe es die Gastarbeiter Mühe gekostet, eine neue Identität zu finden. „Sie fragten sich: Bin ich ohne Arbeit noch Lohberger? Die Antwort lautete: Ja, weil wir hier leben“, erzählt der Gästeführer. Die Zechenhäuser waren damals preiswert zu erwerben, was viele Ansässige und neue Zugezogene nutzten: „Jahrelang wurde überall umgebaut.“
Weitere Stationen der Führung sind die schon lange geschlossene evangelische Kirche, deren Bau nach dem Zweiten Weltkrieg die Briten anregten – sie wird zum Kolumbarium umgewandelt – und die große Moschee. „Beide Moscheen hier sind sunnitisch“, erklärt Hafizoglu, „welche man besucht, hängt von der jeweiligen Dachorganisation ab.“
Zentraler Markplatz mit bewegter Vergangenheit und Gegenwart
Sehr ereignisreich ist die Historie der Siedlung, denn viele bedeutende Geschehnisse erlebten die Bewohner hier hautnah mit. Vor allem der zentrale Marktplatz war Schauplatz dramatischer Ereignisse. „Mitte der Zwanziger Jahre besetzte die Rote Armee die Zeche, der Direktor wurde ermordet und sie blieb zwei Jahre lang geschlossen. Belgische Truppen haben sie dann frei gekämpft. Die Kommunisten haben bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 die Wahlurnen auf dem Marktplatz geleert und die Stimmzettel verbrannt“. In der NS-Zeit hätten dann von einer Steinstufe am Kiosk aus Nationalsozialisten ihre Hetz-Propaganda übermittelt. „Heute gibt es hier einen richtig krassen `Mischmaschmarkt´, sogar mit Autozubehör“, lobt Hafizoglu den beliebten Treffpunkt aller Altersgruppen. Jeder kennt hier jeden: „Erzähl‘ was über mich!“, ruft ihm der Kioskbesitzer zu und gesellt sich schließlich zur Gästegruppe. Junge Autofahrer stoppen kurz, um „Öm“ freundlich zu grüßen.
Auf unterhaltsame Weise kompetent über den Strukturwandel infomiert
Weiter geht es zum Ledigenheim und schließlich zur Moschee. Wegen einer Trauerfeier kann der junge Muslim zu seinem Bedauern mit der Gruppe nicht hinein. Er berichtet, dass der Imam inzwischen von einem Streetworker unterstützt wird, der die Verbindungen zum Alltag schaffe. Und zukünftig würden die Lohberger Imame auch deutsch sprechen, kündigt er an.
Satt an Informationen und beeindruckt von den Einblicken in diesen sehr lebendigen Stadtteil, können die Gäste sich nun noch auf der anderen Seite der Hünxer Straße beim Street Food Festival stärken oder das Atelier freiart besuchen. Die Lebensqualität in Lohberg ist hoch und der Stadtteil bietet ein breitgefächertes Veranstaltungsprogramm – auch für auswärtige Besucher*innen.
Wer auf sehr unterhaltsame Weise kompetent über den Strukturwandel durch Zuwanderung in der Region am Beispiel Lohbergs informiert werden will, der sollte sich diese Führung auf keinen Fall entgehen lassen.
Text und Fotos: Gudrun Heyder
ZUR PERSON
Ömür Hafizoglu, 28, lebt von Geburt an mit seiner Familie in Lohberg. Seine männlichen Verwandten waren Bergleute. Die Mutter kam schon als Zweijährige nach Deutschland. Sie schickte ihren Sohn in die Schule im Hagenbezirk, wo Ömur der einzige Türke in seiner Klasse war. Heute studiert der Gästeführer in Duisburg Marketing und Management. Er bedauert sehr, dass er neben der türkischen nicht auch die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen und wählen kann, obwohl „meine Heimat hier ist“. Hafizoglu spricht beide Sprachen perfekt. „Meine Motivation, Führungen zu machen, besteht darin, dass ich das wirkliche Leben in Lohberg vermitteln möchte.“
Nächster Termin dieser Führung: 12.11.2017, 15:00 Uhr
Die Teilnahmegebühr beträgt 8 Euro und die Teilnehmerzahl ist auf 20 begrenzt.
Informationen unter info@lohbergtours.de und Anmeldungen über:
Gesa.Scholten@dinslaken.de, Tel. 02064 66498